In einem unserer letzten Lookbooks haben wir begonnen, über die globalen historischen und aktuellen Zusammenhänge des Rohstoffs Baumwolle und seine wirtschaftlichen und politischen Implikationen zu sprechen. Dazu entschlossen haben wir uns einmal, weil wir es als unsere Pflicht begreifen, gemeinsam Wissen zu erlangen und zu teilen, zum Anderen aber auch, weil vieles dessen, was man dabei lernen kann, auch mit der Entstehung von Lebenskleidung zu tun hat.

Während es uns im vergangenen Text zunächst um eine Art Überblick ging, möchten wir diesmal den Blick auf Indien richten - und damit auf ein Land, das für uns eine besondere Bedeutung hat. Die Geschichte von Lebenskleidung nämlich hat damit ganz unmittelbar zu tun: Enrico und Ben haben in Thiruvananthapuram / Kerala gemeinsam einige Semester lang studiert und durch die vielen Eindrücke und Erlebnisse den Entschluss gefasst, Lebenskleidung zu gründen um den gewaltvollen und menschenunwürdigen Anbau- und Produktionsbedingungen, die sich mit Baumwollstoffen verbinden, langfristig etwas entgegensetzen zu können.

Historisch ist es, wie leider allzu oft, insbesondere den Effekten von Globalisierung, Kapitalismus und Imperien zuzuschreiben, dass Indiens Baumwollindustrie auf Jahrhunderte voller Gewalt und Unterdrückung zurückblickt und die Spuren und Strukturen all dessen auch heute noch überdeutlich sind.

Die Industrielle Revolution in England konnte ganz maßgeblich davon profitieren, dass das British Empire seine vielen Kolonien ausgeplündert hat, oder vielmehr: deren Unterwerfung und Ausplünderung war eine Grundvoraussetzung für ihren Erfolg. Die Britische Ostindien-Kompanie war dabei ganz zentral: Das Hauptgeschäft der privaten Handelsgesellschaft, die zwischen 1600 und dem späten 19. Jahrhundert bestand, war Baumwolle. Der Handel mit Bengalen, einer Region im Osten bzw. Nordosten des Indischen Subkontinents, wurde dabei monopolisiert, Steuerabgaben wurden in horrende Größenordnungen getrieben und Handwerker dazu gezwungen, ihre Waren immer günstiger zu verkaufen. Auch die große Hungersnot in Bengalen von 1770 ist direktes Resultat dieser Machtungleichheiten. Das Empire hatte den Reis, der in der Region angebaut wurde, aufgekauft und teurer weitervertrieben. Im Zusammenspiel mit Ernteausfällen und einer Dürreperiode führte dies zu einer kaum vorstellbaren Katastrophe, bei der 10 Millionen Menschen ums Leben kamen.

Die Entwicklungen, die ungefähr zeitgleich in Europa stattfanden, forcierten die Asymmetrien zwischen dem 'Mutterland' und der Kolonie weiter. Mit der Spinnmaschine 'Spinning Jenny' wurde 1764 eine effiziente Maschine zur Verarbeitung von Baumwolle erfunden, die Indiens Rolle in der Warenerzeugung, die historisch dort fest verankert gewesen war (nicht umsonst sprechen Ökonom*innen davon, dass insbesondere indische Baumwollfabrikate die ersten globalen Konsumgüter gewesen sind) schwächten und die Kolonie zum bloßen Rohstofflieferanten machte. Indien als Konkurrent für die Produkte made in England war schließlich ein Szenario, das man riskieren konnte. England fand dafür Strategien, die perfide waren: Das Empire führte hohe Einfuhrzölle ein und untersagte es der Kolonie, mit anderen Ländern Europas Handel zu betreiben.

Und noch etwas ereignete sich in der Folge: Die indischen Märkte, die für hochwertige Baumwollerzeugnisse bekannt waren, konnten ihre Handwerksbetriebe immer weniger am Leben erhalten, da mehr und mehr minderwertiges (aber billiges) englisches Garn in diese Märkte drängte. Die Kolonialmacht tat, was Kolonialmächte taten: Sie wartete, bis alle Handwerksbetriebe und Manufakturen zerstört waren und Millionen von Spinnern und Webern zur Landflucht gezwungen wurden. Dass das Dharma Chakra, das sich heute in der Indischen Nationalflagge findet, optisch an ein Spinnrad erinnert, ist kein Zufall. Es wurde mit Gandhi zum großen Symbol des Widerstandes und Unabhängigkeitskampfes zwischen den beiden Weltkriegen, bei dem es dezidiert um den Boykott englischer Waren ging - und eine Rückeroberung der indischen Arten der Textilerzeugung und damit letztlich um eine Loslösung und Emanzipation vom British Empire.

Diese Loslösung fand 1947 dann auch tatsächlich statt: Der Indian Independence Act markierte die Aufteilung Britisch-Indiens in Pakistan und Indien und somit de jure das Ende der Britischen Kolonialzeit. In einem Artikel zu den europäischen Dekolonialisierungsbestrebungen, der 2018 erschien, heißt es: "Überraschend schnell zog sich Großbritannien auch aus Indien zurück. Dort hatten erstarkende nationalistische, hinduistische und muslimische Bewegungen, der gewaltige indische Kriegseinsatz, aber auch die in Folge der Kriegswirtschaft ausgebrochene Hungerkatastrophe in Bengalen die britische Herrschaft entscheidend geschwächt. [Die Briten] entschlossen sich zur Flucht nach vorn, und als Lord Mountbatten, der letzte Vizekönig, der im Auftrag der britischen Regierung die Regierungsgewalt über die Kronkolonie ausübte, nach Indien kam, verlegte er das Datum der Unabhängigkeit sogar noch um ein Jahr, auf den 15. August 1947, vor. [...] Die Dekolonisation Indiens verlief gewaltvoll und chaotisch. Da es nicht gelang, Muslime und Hindus zu einen, erfolgte mit der Unabhängigkeit die Teilung des Landes in den hinduistisch dominierten Staat Indien und den muslimischen Staat Pakistan."

Historisch lassen sich viele Beispiele dafür finden, welche Ambivalenzen dann entstehen, wenn ehemalige Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen werden. Immer geht es dabei um die Frage danach, wie ein postkolonialer Blick, der noch immer eurozentrisch geprägt ist, zugunsten neuer Konstellationen aufgelöst werden kann - und unter welchen Voraussetzungen das überhaupt möglich ist. Dabei ist auffällig, dass viele der heute einschlägigen Texte zu Hybriden Räumen kultureller Begegnung oder 'Europa als Provinz' von indischstämmigen Theoretiker*innen stammen.

Richten wir unseren Blick aber wieder ganz konkret auf die Jahre nach der Unabhängigkeit und Teilung - und auch auf Gandhi, dessen Losung und Idee es gewesen ist, dass Unabhängigkeit immer und zuerst auch ökonomische Unabhängigkeit bedeutet. In Indien hat es seit den 1950er Jahren immer wieder schwere Unruhen gegeben, in deren Mittelpunkt ganz oft der Arbeiter*innen und Bäuer*innenwiderstand gestanden hat. In den 50er und 60er Jahren hat es sogenannte Landschenkungs-Kampagnen gegeben, deren Ziel es war, Großgrundbesitzer dazu zu bewegen, Teile ihres Landes an ärmere Bevölkerungsgruppen abzugeben. Die 70er Jahre wiederum hatten die 'Chipko'-Bewegung, eine Organisation von Landfrauen, denen es darum ging Wälder im zentralindischen Uttarakhand zu schützen - und das mit Erfolg.

Bekannt sind sicherlich auch die Streiks der frühen Achtziger, bei denen Hunderttausende Arbeiter*innen aus Textilfabriken für Lohnerhöhungen und bessere Grundversorgung auf die Straße gingen - vergeblich jedoch. Die Liste der Kampf- und Widerstandsformen ist lang und dennoch muss man beobachten, dass sich in Indien wie in anderen Teilen der Welt seit den 90er Jahren zunehmend eine wirtschaftliche Liberalisierungspolitik durchsetzen konnte und so insbesondere Türen und Tore für multinationale Konzerne öffnete: Zynischerweise werden das Land und seine Ressourcen so abermals ausverkauft.

Rund die Hälfte der indischen Erwerbstätigen arbeitet heute in der Landwirtschaft. Oftmals aber steigt in diesem Zuge die Verschuldung der Familien. Gründe dafür sind fallende Verkaufspreise bei gleichzeitig steigenden Produktionskosten. Besonders Saatgut und Dünger sind oft so teuer, dass die Bäuer*innen sie sich eigentlich gar nicht leisten können. Dahinter steht natürlich eine Strategie von Großkonzernen wie Bayers Monsanto, die die Abhängigkeitsbeziehungen der Bäuerinnen aufrecht erhalten und immer mehr an ihnen verdienen wollen.

Ihren Höhepunkt fanden diese Entwicklungen in den letzten Jahren in Premierminister Modis Bestrebungen zu einer Agrarreform, die eine Liberalisierung der Landwirtschaft forciert und in den Augen vieler Kleinbäuer*innen vor allem Großkonzerne favorisiert. Der Widerstand, der sich daraufhin formierte, war unglaublich: mehr als 500.000 Bäuerinnen gingen monatelang auf die Straße, die größten Widerstände seit Modis Machtergreifung 2014. Und er war erfolgreich! Im November letzten Jahres zog Modi die geplante Agrarreform zurück. Mit Blick auf die bevorstehenden Regionalwahlen im Frühjahr diesen Jahres war hier gewiss politisches Kalkül die treibende Kraft, und dennoch: Es zeigt sich, dass Widerständigkeit und Protest Mittel sind, die Veränderungen herbeiführen können.

Der Glaube an transformative Prozesse und eine Revolution ist das, was sich durch die Jahrhunderte zieht - und etwas, für das es sich bei allem was wir tun zu kämpfen lohnt. Nicht umsonst sind wir regelmäßig in Indien und sind Gründungsmitglied der Green Fashion India Initiative, die auf lokale Produktionen, den Einsatz von Naturfasern und ethische Standards bei der Verarbeitung setzt. Erst vor wenigen Monaten, Ende November 2021, war Lebenskleidung-Mitgründer Ben in Pune im westindischen Bundesstaat Maharashtra und hat dort im Rahmen der 8. GFI-Konferenz neben Vijayalakshmi Nachiar (Gründerin und Kreativdirektorin des nachhaltigen südindischen Saree-Labels 'Ethicus'), Dr. Patsy Perry (Dozentin für Modemarketing am Manchester Fashion Institute) oder Yogesh Gaikwad von der Society of Dyers and Colourists gesprochen.

Derlei Austausch ist uns ungemein wichtig und macht klar, dass Länder und Regionen, die wir aus westlicher Sicht und aufgrund historischer Strukturen als Peripherien wahrnehmen, genau das nicht sind. Stattdessen sind sie Zentren, an denen unglaublich wichtige Gespräche und Veränderungen stattfinden.